Marfa‘ und tasa als Instrumente der nonverbalen Kommunikation im jemenitischen Hochland

von Ulrike Stohrer, Jemen Report 2023

Im jemenitischen Hochland besteht ein einzigartiges nonverbales Kommunikationssystem, das auf Musikinstrumenten – den beiden Pauken marfa‘ und tasa – basiert. Es durchzieht das gesamte öffentliche Leben im ländlichen Raum und zu Teilen auch in der Stadt. Zudem sind die beiden Pauken selbst mit viel symbolischer Bedeutung aufgeladen und ein faszinierender, bislang wenig bekannter Aspekt des öffentlichen Lebens im Nordjemen, der es wert ist, einmal näher betrachtet zu werden.

Marfa' , Tasa by Ulrike Stohrer
Marfa’ , Tasa by Ulrike Stohrer

Wohl jeder, der den Jemen bereist hat, hat den Klang der Pauken im Ohr, die man bei Hochzeitsprozessionen oder dem Dolch-Tanz der Männer (bar‘a) hört – den dumpfen, gleichmäßigen Schlag des marfa‘ und den helleren, melodiösen Klang der tasa. Die Aufgabe dieser beiden Pauken geht jedoch weit über die Begleitung des Tanzes hinaus. Der folgende Beitrag beleuchtet einmal genauer die Funktionsweise und Bedeutung dieses faszinierenden Systems.

Einleitung – Die Pauken marfa‘ und tasa

Der marfa‘ ist eine bauchige Kesselpauke aus Holz, die mit einem kurzen, stumpfen Holzstock geschlagen wird und einen eher tiefen, dunklen Ton hervorbringt. Die tasa hingegen ist eine flache Pauke aus einem mit einer Membran aus Tierhaut versehenen Metallbecken, das mit zwei langen dünnen Stäben gespielt wird und einen helleren, metallenen Klang hat. Jemeniten stufen diese beiden Pauken jedoch nicht als Musikinstrumente ein. Sie definieren sie eher als Zeremonialgeräte. Beide Pauken haben ein Repertoire an bestimmten Rhythmen, die entweder einzeln oder auf beiden Instrumenten gemeinsam gespielt werden und jeweils einen eigenen Namen sowie eine spezifische Bedeutung haben. Während der marfa‘ zumeist einen gleichmäßigen Taktschlag vorgibt, hat die tasa eine größere Bandbreite an Klängen und Melodien.

Die Paukenrhythmen können dazu dienen, Raum und Zeit öffentlicher Angelegenheiten wie etwa Hochzeiten, religiöse Feste, kollektive Arbeitsprojekte u.v.m. anzukündigen und akustisch zu definieren. Sie sind darüber hinaus immer in den Gästeempfang eingebunden.

Die Rolle und Funktionsweise der Pauken im sozialen Leben lässt sich recht gut veranschaulichen am Beispiel des Empfangszeremoniells im jemenitischen Hochland, das ich im Folgenden näher beschreibe.

Das Empfangszeremoniel

Die Pauken sind essentieller Bestandteil jedes öffentlichen Ereignisses im Dorf, bei dem mehrere Personen oder Personengruppen zusammentreffen. Dies kann etwa eine Hochzeit, ein islamisches Fest, ein Wochenmarkt, ein geschäftliches Zusammentreffen mehrerer Scheichs u.v.m. sein. Stets folgt ein solches Ereignis dem gleichen zeremoniellen Ablauf, der sich in drei Phasen gliedert:

1) Die Prozession (sira)

Die Gruppe der Gäste, die ihr eigenes Dorf oder Territorium verlässt, zieht in einer sira (= Gang, Lauf) genannten Prozession zum Veranstaltungsort. In gleicher Weise gehen die Gastgeber den Gästen zur Begrüßung bis zum Ortseingang oder der Territoriumsgrenze entgegen. Angeführt wird jede Gruppe jeweils von zwei Musikern, die die Zeremonialpauken marfa‘ und tasa spielen. Während die Pauken einen speziellen Prozessionsrhythmus (daqqat al-sira) spielen, laufen die Prozessionsteilnehmer in lockerer Formation hinter den Paukisten her und singen dabei Verse der profanen Poesiegattung zamil, die dem jeweiligen Anlass entsprechend Gruppenwerte wie Kooperation und Gastfreundschaft ausdrücken. Die Männer laufen in ihrem individuellen Schritt, es ist kein formalisierter Marsch. Auch der Gesang ist unabhängig vom Paukenrhythmus. Nach einer Weile hält die Gruppe an und der Gesang verstummt. Die bei den Pauken spielen nun den bar‘a-Rhythmus, und die Männer formieren sich zu einer Performance, die nur in diesem rituellen Kontext stattfindet, dem berühmten jemenitischen „Dolchtanz“ bar‘a.

Während der gesamten sira-Prozession wechseln sich je nach der Stimmung der Teilnehmer bar‘a und zamil immer wieder ab, bis die Männer ihr Ziel erreichen.

Sira zu Fuß by Ulrike Stohrer
Sira zu Fuß by Ulrike Stohrer

Die beiden Paukisten führen die Gruppe an, und die Paukenrhythmen geben ihr einen Rahmen und eine Struktur, die den Reisenden ein Gefühl der Gruppenzusammengehörigkeit vermittelt. Gleichzeitig definieren sie akustisch einen geschützten Raum, indem sie den Bewohner:innen der Orte oder Territorien, durch die die Prozession zieht, ihre Anwesenheit ankündigt und ihren friedvollen Rechtsstatus (hijra) anzeigt.

Sira mit Auto by Ulrike Stohrer
2) Das Empfangszeremoniell (istiqbal)

Am Ortseingang treffen die beiden Prozessionen der Gastgeber und der Gäste aufeinander. Normalerweise sind die Gastgeber zuerst da und erwarten die Gäste. Treffen jedoch die Gäste zuerst ein, so müssen sie an der Ortsgrenze warten und sich durch die Paukenrhythmen bemerkbar machen, auf die die Gastgeber antworten. Es erfolgt nun eine formalisierte und schrittweise Kontaktaufnahme:

Die Gastgeber stellen sich in einer Reihe nebeneinander auf. Ebenso formieren sich die Gäste und gehen langsam auf die Gastgeber zu. Die Pauken stimmen nun den Empfangsrhythmus (daqqat al-istiqbal) an und aus jeder Gruppe tritt ein Wortführer hervor. Diese beiden Männer begrüßen einander in einer förmlichen Wechselrede, die sowohl religiöse Segensformeln und den islamischen Gruß al-salamu ‘alaikum (der Friede sei mit euch) als auch weitere rhetorische Wendungen beinhaltet, die die friedliche Absicht der beiden Gruppen und gegenseitigen Respekt bekunden (für Textbeispiele vgl. Caton 1986). Daraufhin begrüßen alle Teilnehmer einander individuell mit Handschlag. Nach dem verbalen Grußaustausch beginnen die Gastgeber mit einem bar‘a, wiederum begleitet von beiden Pauken. Haben die Gäste dieselbe bar‘a-Version, können sie sich in den Kreis einreihen. Haben sie eine eigene Version, so tanzen sie gleichzeitig mit oder nach den Gastgebern. So wird die verbale Begrüßung auch körperlich durch eine gemeinsame Handlung bekräftigt und der erste Schritt zur Integration der Gäste getan. Diese stehen nun rechtlich für die Dauer ihres Aufenthaltes in der Gastgebergruppe unter deren Schutz (das heißt, sie dürfen sich im Falle eines Angriffs nicht selbst verteidigen, doch ihre Gastgeber sind dazu verpflichtet, ihre physische und moralische Integrität sicherzustellen, und jeglicher Verstoß dagegen ist mit hohen Strafen belegt). Schließlich gehen alle Teilnehmer gemeinsam in einer sira-Prozession in den Ort hinein zum Haus des Gastgebers, wo nun je nach Tageszeit und Anlass entweder ein gemeinsames Gastmahl stattfindet, oder der Empfang gleich in ein geselligeres Beisammensein mündet.

Bara’ Tanz nicht in der Forschung von Ulrike Stohrer
3) Die abendliche Geselligkeit (samra)

Am Abend des Empfangs, der i.d.R. zugleich der Vorabend eines islamischen Festes oder einer Hochzeit ist, kündigt ein spezieller Einladungsrhythmus der Pauken (daqqat al-da‘wa) die gesellige Zusammenkunft (samra – Nachtwache, Soirée) an. Zu diesem Zweck spielen die Paukisten auf dem Dach des Hauses des Gastgebers. So definieren sie durch ihr Spiel das Gebäude für die Dauer der Veranstaltung als öffentlichen Raum. Jeder Mann, der die Pauken hört, kann an der samra teilnehmen, auch wenn er nicht zu den geladenen Gästen (z.B. einer Hochzeit) gehört. Dies ist bedeutsam, da ein jemenitisches Wohnhaus normalerweise ein strikt privater Raum ist, und Männer, die nicht zur erweiterten Großfamilie gehören, es nur auf Einladung und im Beisein des Hausherrn betreten dürfen. An einer samra hingegen soll möglichst zumindest ein Vertreter eines jeden Haushaltes des Ortes teilnehmen, damit sich die Gemeinde den Gästen gegenüber als Einheit präsentiert und diese die Gelegenheit haben, mit allen Familien des Dorfes persönliche Kontakte zu knüpfen. Die samra findet im größten und repräsentativsten Raum des Hauses, dem diwan, statt. Dort herrsch eine formelle Sitzordnung: Die Gäste sitzen „oben“ an der am weitesten von der Tür entfernten Schmalseite des Raumes. An den Wänden entlang zu ihrer Rechten und Linken platzieren sich dann entsprechend ihrem sozialen Rang und Alter alle übrigen Teilnehmer bis schließlich „unten“ diejenigen mit dem niedrigsten Alter und Sozialstatus sitzen. In dem Moment, in dem der Gastgeber den Versammlungsraum betritt, spielen die Pauken an der Tür einen speziellen Rhythmus, der sein Erscheinen und den Beginn der samra markiert (daqqat al-tahdir). Im Laufe des Abends führen die Teilnehmer dann gleichzeitig oder abwechselnd verschiedene Poesieformen, Gesänge und Tänze aus. Es beginnt zunächst mit formalisierten und kollektiven Gattungen wie zamil und bar‘a, später folgen die mehr spielerischen und individuellen Gattungen, wie der satirische ichterwettstreit bala und gelegentlich auch die Tanzform raqs. Die Gastgeber ermuntern die Gäste immer wieder dazu, mit möglichst vielen Partnern bei der Poesie oder den Tänzen zu interagieren, um sich so nun auch auf individueller Ebene in die Gastgebergruppe zu integrieren. Die samra schließt das Empfangszeremoniell ab und ist gleichzeitig der Beginn der eigentlichen Zusammenkunft (z.B. eine Hochzeit oder ein Stammestreffen). Nun ist die Teilnehmerschaft homogen, und der friedliche Ablauf der folgenden Veranstaltung ist gewährleistet.

Diese Darstellung veranschaulicht m.E. sehr gut, wie zentral die Pauken und die Paukisten für die Durchführung und Strukturierung der Zeremonien, aber auch als Marker des jeweiligen rechtlichen Status‘ der Teilnehmer und der involvierten Räume sind.

Doch nicht nur zu festlichen Anlässen, sondern auch im täglichen Leben spielen die Pauken und die Paukisten eine wichtige Rolle.

Das Empfangszeremoniell by Ulrike Stohrer
Das Empfangszeremoniell by Ulrike Stohrer
Raqs während einer Hochzeitsfeier im Haus by Ulrike Stohrer
Raqs während einer Hochzeitsfeier im Haus by Ulrike Stohrer

Den gesamten Bericht Ulrike Stohrers finden Sie hier: Die Sprache der Pauken pdf

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